Buch, Englisch, Französisch, Deutsch, 256 Seiten, Format (B × H): 147 mm x 208 mm, Gewicht: 476 g
Kurzformen des Erzählens - Eine Anthologie
Buch, Englisch, Französisch, Deutsch, 256 Seiten, Format (B × H): 147 mm x 208 mm, Gewicht: 476 g
ISBN: 978-3-86638-440-8
Verlag: Dielmann Axel Verlag
Der vorliegende Band experimentiert mit unterschiedlichen Kurzformen, die im Rahmen einer Kooperation einer Professorin für Französische und Spanische Literatur- und Kulturwissenschaft (Prof.in Dr. Kirsten von Hagen) und einer französischen Autorin (Dr. Nirina Ralantoaritsimba) hervorgegangen sind, die selbst ihr Schreiben als eine Reise begreift, zu anderen Welten und zum Anderen.
Schaut man sich die Entwicklung der Kurzformen des Erzählens an, so wird deutlich, dass auch schon um 1900 kurze Formen des Erzählens en vogue waren. Man denke nur an die Weltausstellungen, Theaterformen wie der Féerie oder den kurzen Filmen der Brüder Lumière im Zusammenhang der Ästhetik des Spektakulären, wie sie mit der literarischen Moderne in Europa verknüpft ist.
Nirina Ralantoaritsimba begann während der Corona-Epidemie mit Schreibseminaren am Lehrstuhl von Kirsten von Hagen, die virtuell angeboten wurden und auf eine große Resonanz seitens der Studierenden trafen. Die im Rahmen der Seminare entstandenen Texte zeugen von einem Wunsch, in Zeiten von Krisen und Umbrüchen, globalen Herausforderungen und einem Gefühl, dass die virtuelle Welt zumindest vorübergehend ein neues Zuhause, eine neue Form der Intimität generiert.
Zielgruppe
Romanisten, Literaturwissenschaftler, Linguisten, Erzähler, Dichter, Autoren, Schriftsteller, Schreiblehrer, Deutschlehrer
Weitere Infos & Material
Inhaltsverzeichnis
Vorwort von Nirina Ralantoritsimba:
Enfin
Vorwort von Kirsten von Hagen:
Kurzformen des Erzählens: eine Einführung
Vorwort von Karo Krämer
Le monde du travail:
Novelle von Nirina Ralantoritsimba
Texte der Winterschule „Mehrsprachigkeit :
Ästhetische und Politische Aspekte“ (Plurilinguisme:
„Choix esthétiques et enjeux politiques“) 2023 in Pau (Frankreich)
Haikus, Gedichte und Prosatexte von Amina Alickovic, Carlotta Ariano, Ella Bachmann, Geovana Cristina Câmara Costa, Giulia Barbero,
Sarah Langenbeck, Anesu Angela Mahwehwe, Rabea März,
Matilda Mason, Cecilia Moroni, Jaime Patriarca, Sofia Ranca,
Caterina Rebecchi, Riccardo Scaglia, Floriana Vacchina, Lisa Wächter, Christian Wollgast, Antoinette Zimmermann
Textsammlung 1 Verlassen der Gesellschaft
Texte von Andrea Blanes Fernández, Karl Georg Gierth, Felix Orf,
Kathleen Marie Nickel, Cornelia Friederike Syring, Julia Sokolenko,
Hannah Schmidt, Alica Müller, Victor Marc, Franca Fix, Tim Rein
Textsammlung 2 Digitale Welten : Porträt
Texte von Christina Bausch, Andrea Blanes Fernández, Anna Bayerle, Franca Fix, Karl Georg Gierth, Eyleen Jana Grisar, Alica Müller,
Kathleen Marie Nickel, Tim Rein, Hannah Schmidt,
Cornelia Friederike Syring, Julia Sokolenko
Textsammlung 3 Burnout
Texte von Anna Bayerle, Franca Fix, Mikosch Loutsenko, Victor Marc, Tewodros Meshesha, Alica Müller, Kathleen Marie Nickel, Felix Orf,
Tim Rein, Hannah Schmidt
Textsammlung 4 Grenzen: ein gesellschaftliches Tabu
Texte von Andrea Blanes Fernández, Anna Bayerle, Franca Fix,
Eyleen Jana Grisar, Alica Müller, Kathleen Marie Nickel, Felix Orf,
Hannah Schmidt, Jordis Thalia Wannewitz
Textsammlung 5 Porträt: „Die letzte Generation“
Texte von Anna Bayerle, Franca Fix, Eyleen Jana Grisar, Alica Müller, Kathleen Marie Nickel, Felix Orf, Tim Rein, Hannah Schmidt, Cornelia Friederike Syring, Julia Sokolenko
Textsammlung 6 Familienszenen
Texte von Christina Bausch, Andrea Blanes Fernández, Anna Bayerle, Franca Fix, Karl Georg Gierth, Victor Marc, Alica Müller, Kathleen Marie Nickel, Hannah Schmidt, Cornelia Friederike Syring, Julia Sokolenko
Textsammlung 7 Genderidentitäten
Texte von Christina Bausch, Andrea Blanes Fernández, Anna Bayerle, Franca Fix, Kathleen Marie Nickel, Hannah Schmidt
Textsammlung 8 (Re-)Mythisierung des Waldes
Texte von Andrea Blanes Fernández, Anna Bayerle, Franca Fix, Eyleen
Jana Grisar, Victor Marc, Tewodros Meshesha, Kathleen Marie Nickel,
Tim Rein, Hannah Schmidt, Julia Sokolenko
Textsammlung 9 Varia: Vermischtes
Texte von Christina Bausch, Milena Frericks, Candice Geoffray, Karl Georg Gierth, Maxime Grégoire, Eyleen Jana Grisar, Charlotte Knauth, Karo Krämer, Ronja Lange, Tewodros Meshesha, Lisa Wächter, Maret Zeino-Mahmalat
Nachwort von Michael Basseler
Autorinnen und Autoren, in alphabetischer Reihenfolge
Vorwort der Herausgeberin Prof. Kirstin von Hagen:
Kurzformen sind nicht nur die Auswirkung eines Medienumbruchs, eines Wechsels vom analogen zum digitalen Zeitalter, wie Schröter / Paech ihn an den Spielformen des Intermedialen treffend beschrieben haben, sie gehören schon immer zur Kunst dazu, man denke nur an Epitaphe oder Epigramme. In den letzten Jahren haben sie dennoch eine besondere Aufmerksamkeit generieren können, die sich vor allem in der Einführung des Smartphones und einer Intensivierung von Internetformen und -foren um das Jahr 2000 zeigt. Kurznachrichtendienste/SMS, kurze Werbespots, Spam, aber auch Nachrichtendienste wie Twitter oder Videoplattformen wie Youtube und Streamingdienste wie Netflix haben zahlreiche neue Formen wie Kurzvideos, Push-up-Nachrichten, Mikronarrative (Twitter) und kurz-getaktete Serien wie Game of Thrones hervorgebracht, die nach immer kürzeren Aufmerksamkeitsspannen suchen. Auch diese Kurzformate zeichnen sich durch eine besondere Informationsdichte und Verdichtung aus, wie etwa das neue Format “Daily Dose Of Internet” zeigt, und sind oft, aber nicht immer, unfertig und fragmentarisch. Viele zielen aber auch auf die Fülle, wie Game of Thrones, bei gleichzeitiger Kürze der einzelnen Folgen. Die Episoden von Game of Thrones beispielsweise drängen erst in der letzten Staffel ins Monumentale und sind selbst deutlich länger und epischer, man denke nur an die lange Nacht der Entscheidung oder Daenerys’ scheinbar nicht enden wollenden Flug der Zerstörung über Königsmund. Michael Basseler, der die Merkmale einer Ästhetik der kurzen Form gleichsam in einer Minimaldefinition zu bestimmen versucht, weist darauf hin, dass es sowohl Beispiele für Kurzformen gibt, die zur Offenheit tendieren, wie Eco es ausdrückt (Stichwort: opera aperta), als auch solche, die bewusst eine Geschlossenheit erzeugen (Basseler 2019: 53).
Schaut man sich die Entwicklung der Kurzformen des Erzählens an, so wird deutlich, dass auch um 1900 im Kontext der Weltausstellungen, von Theaterformen wie der Féerie, den Zaubermärchen oder den kurzen Filmen der Brüder Lumière im Zusammenhang der Ästhetik des Spektakulären, wie sie mit der literarischen Moderne in Europa verknüpft ist, kurze Formen des Erzählens en vogue waren. So führte die Einführung zahlreicher neuer technisch motivierter Erfindungen um 1900, wie die Fotografie, präkinematographische Dispositive, der Film, die Telefonie, die sich den Slogan „Keep it short“ zum Motto machte, oder das Telegramm, das als Vorläufer der Textnachricht gesehen werden kann, zu kurzen Telefonmonologen, die eine ganze theatralische Welt entfalteten und – durch den angedeuteten, aber abwesenden Gesprächspartner – Dichte und Offenheit zugleich zu garantieren schienen (von Hagen 2015). Auch die Postkarte, die 1869 in Österreich/Ungarn als Correnspondenz-Karte erfunden wurde, die petite poste, die in Frankreich seit 1761 in Gebrauch war, und die kleine Wiener Post (seit 1784) sind neue Formen der Kürze, die zu kommunikativen Zwecken entwickelt wurden. Auch der Feuilletonroman des 19. Jahrhunderts, der als Vorläufer der heutigen Serienformate gilt, drängt auf die Verdichtung einzelner Episoden in einer zugleich zum Epos tendierenden Form; man denke hier an den wohl erfolgreichsten französischen Feuilletonroman des 19. Jahrhunderts, Eugène Sues Mystères de Paris (Die Geheimnisse von Paris, 1843), der vom 19. Juni 1842 bis zum 15. Oktober 1843 fast täglich in der (eher konservativen) Tageszeitung Le Journal des Débats erschien und zum Medienereignis avancierte.
Die lose aneinandergereihten Episoden, in die im Sinne einer interaktiven Form bereits Leservorschläge aus allen Bevölkerungsgruppen eingeflossen sind, erzählen von intriganten Adelsgesellschaften und dem Pariser Unterschichtenmilieu, dessen Alltag zwischen Arbeit, Elend und Verbrechen oszilliert und teils realistisch, teils malerisch in einer frühen Love-and-Crime-Story dargestellt wird. Eine zentrale Identifikationsfigur, die den Zusammenhalt der einzelnen Episoden gewährleistete, ist der Comte de Gérolstein, der sich als „Rodolphe“ maskiert unter das Volk mischt und eine Art Superheld verkörpert, eine Figuration des Heroischen, der sich auch der Comic später bedienen sollte. Diese Tradition, wie auch die häufig kurzen Vaudevilles und Féeries, die dann wiederum der frühe Film für sich entdeckte, wurde auch vom Comic aufgegriffen, der zunächst als kleine Erzählung, als Comicstrip mit in sich abgeschlossenen Geschichten von Serienhelden konzipiert war und damit ebenfalls in der Spannung zwischen Offenheit und Geschlossenheit zu verorten ist. Die frühen Filme der Gebrüder Lumière lassen sich gleichfalls unter dem Begriff der Mikroerzählungen, der Kurzgeschichte, subsumieren, wie die folgenden Titel exemplarisch zeigen: Die Ankunft eines Zuges (L’arrivée d’un train, 1895), Der begossene Gärtner (Le Jardinier, 1896), Das Kind mit dem Ballon (L’enfant au ballon, 1896).
Neben Prosagedichten und Balladen ist vor allem die Novelle als populäre Kurzform des 19. Jahrhunderts zu nennen, die neben den Feuilleton-Romanen fortbesteht. Im Italienischen ist der Begriff „Novelle“ ein Diminutiv, das mit Nachricht oder Neuheit übersetzt werden kann. Der französische Begriff «nouvelle» lässt sich auf das Lateinische zurückführen und kann wie sein italienisches Pendant mit Neuheit übersetzt werden. Der Grand Robert geht jedoch darüber hinaus und weist darauf hin, dass es sich bei der «nouvelle» um ein «récit généralement bref» (Robert 1985: 823) handelt, was bereits die Relativität der Aussage unterstreicht, wie sie Basseler für Kurzformen im Allgemeinen feststellt. (Basseler 2019: 147)
Ein zentrales Merkmal der Novelle ist ihre Kürze. Allerdings ist dieses Merkmal als Definitionsgrundlage keineswegs unproblematisch. Während Novellen im 16. Jahrhundert in Frankreich als Erzählungen mit einer Länge von zehn bis 25 Seiten definiert wurden, wurde die Länge im 17. Jahrhundert auf bis zu 200 Seiten erweitert. Darüber hinaus gibt es auch nouvelles historiques mit einem Umfang von 300 bis 400 Seiten (vgl. Bersani 1985: 163). Andernorts wird die Länge der Novelle auf fünf bis 100 Seiten begrenzt, wobei von einer Normseite mit 1600 Zeichen ausgegangen wird (vgl. Ackermann 2004: 17). Aust hingegen bezieht die Länge der Novelle vor allem auf benachbarte epische Gattungen wie den Roman. Diese verschiedenen Versuche, die Länge der Novelle zu konkretisieren, zeigen bereits das Problem der Kürze als zentrales Merkmal. Aus diesem Grund fügte Gide das Kriterium der relativen Zeit hinzu, indem er darauf hinwies, dass die Novelle tendenziell als ein kürzeres Werk angesehen wird, „um auf einmal, in einem Zug gelesen zu werden“ («pour être lue d’un coup, en une fois», Gide 1943: 84 zitiert in Robert 1985: 824). Obwohl die Vielfalt des Genres kaum eine genaue Definition der Seitenzahl zulässt, ist die relative Kürze der Novelle dennoch ein wichtiger Faktor.
Die Tatsache, dass Novellen in der Regel nur eine Begebenheit behandeln, macht deutlich, dass der Begriff der Begebenheit selbst einer genaueren Erklärung bedarf. Historisch lässt sich der Begriff der Begebenheit bis zu Goethe zurückverfolgen (Aust: 9). In einem Gespräch mit Johann Peter Eckermann im Jahr 1827 formulierte Goethe das wesentliche Merkmal der Novelle als „unerhörte Begebenheit“, ein Merkmal, das auch auf viele heutige Kurzformen wie YouTube-Kurzvideos oder Tweets zutreffen kann. Qualifiziert wird das Ereignis nach Goethe durch den polysemen Begriff des Unerhörten, der sowohl „neu“ als auch „überraschend“ bedeuten kann (vgl. Aust: 10). Empörend kann auch im Sinne von „außergewöhnlich“ als Normbruch verstanden werden, oder die Einzigartigkeit eines Ereignisses betonen (vgl. ebd.). Betrachtet man zunächst das Neue an der Novelle, so zeigt sich, dass sich „neu“ auf einer materiellen Ebene sowohl auf eine zeitgenössische Aktualität als auch auf einen überraschenden Ereigniszusammenhang beziehen kann.
Auf formaler Ebene kann es sich auf die Sprache und die Erzähltechnik beziehen, auf funktionaler Ebene kann es mit dem Erregen von Aufmerksamkeit verbunden sein (vgl. ebd. 11), was das Genre in die Nähe einer Ästhetik des Spektakulären rückt. Darüber hinaus hebt die Begebenheit oft den Wert des Ungewöhnlichen im Alltäglichen hervor (vgl. Bersani 1985: 165). Oftmals besteht ein Authentizitätsanspruch und eine damit einhergehende realistische Gestaltung (vgl. Aust 2006: 9) wie bei den Short Stories englischer Provenienz.
Vor allem im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine Vorliebe für das Realistische, obwohl Novellen aufgrund ihrer Begrenztheit nur eine relative Realität abbilden können (vgl. Bersani 1985: 164). Der Novelle wird oft das Verdienst zugeschrieben, eine wahre Geschichte („une histoire vraie“) zu erzählen. Dieser Eindruck wird durch die Verwendung bestimmter Mittel, wie die Benennung der Figuren, die Bezeichnung als „wahre Geschichte“ oder auch durch Quellenangaben verstärkt (vgl. Aust 2006: 11f.). Obwohl Novellen oft als wahre Geschichten bezeichnet werden, finden sie sich nicht nur zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch eine Rezeption der Novellen E.T.A. Hoffmanns in Frankreich angeregte Mode des Phantastischen bei Autoren wie Théophile Gautier oder Maupassant (vgl. Bersani 1985: 165), sondern es lassen sich auch Vorformen phantastischer Novellen im 17. Jahrhundert beobachten.
Weitere Merkmale der Novelle sind eine straffe, überwiegend lineare Handlung, der Wechsel zwischen einer spannenden Erzählung und dem bewussten Einsatz szenischer Gestaltung an den Höhe- / Wendepunkten, während die Handlung am Ende meist ausklingt und die Zukunft der Figuren nur angedeutet wird. Typisch für die Dichte der Form, die wiederum ins Offene drängt, sind Integrationstechniken wie Leitmotive, Dingsymbole, die Dominanz des Ereignishaften sowie die Einbettung der Haupthandlung in eine Rahmenhandlung.
Eine Novelle ist eine Erzählung von kurzer bis mittlerer Länge. Sie beschreibt oft einen Konflikt zwischen Ordnung und Chaos, der einen Bruch mit Normen markiert und Einzigartigkeit signalisiert. In der Regel wird ein einziges Ereignis geschildert; einige Forscher sind der Meinung, dass die Novelle der Singularität verpflichtet ist. Novellen sind meist sehr klar strukturiert und haben eine geschlossene Form.
Während einige Novellenforscher den Beginn ihrer Gattung in der griechischen und römischen Antike verorten, bestimmen andere das Ende des 18. Jahrhunderts als eigentlichen Beginn der Novelle. Dies lässt sich damit erklären, dass Novellen zwar schon in der Renaissance geschrieben wurden – man denke an Bocaccio mit dem Decamerone oder Cervantes mit den spanischen beispielhaften Novellen, den Novelas Ejemplares (1613), sich aber erst im 18. Jahrhundert zur populären Form sui generis entwickelten. Cervantes betont den exemplarischen Charakter der Form; im Prolog vergleicht er sich mit einem Spielleiter, der wie beim Billard die Kugeln anstoßen und so immer neue Formationen herbeiführen kann. Auch diese Metapher verweist auf das Offene in einem verdichteten Szenario mit festen Regeln, die doch Raum für ungewöhnliche und aleatorische Begegnungen lassen. Erst im 19. Jahrhundert verbreitete sich die Novelle unter anderem durch ihr Erscheinen in Zeitungen und Zeitschriften, die in diesem Jahrhundert als Medium an Bedeutung gewannen und für eine ausgeprägt industrialisierte Populärkultur sorgten, sodass das 19. Jahrhundert von einigen Autoren als die „klassische Periode“ der Novelle bezeichnet wird (vgl. Ackermann 2004: 13).
Die Tatsache, dass Novellen im 19. Jahrhundert häufig in Zeitungen erschienen, weist bereits darauf hin, dass Novellen nicht einzeln gedruckt wurden, sondern ihren festen Platz in Zeitungen und Sammlungen hatten. Während im Mittelalter Novellen meist als Teil eines Ganzen veröffentlicht wurden, sind zwischen 1760 und 1830 vor allem Einzeltexte zu finden, die z.B. in rein additiven Sammlungen publiziert werden (vgl. ebd.: 21). Die Veröffentlichungen in Sammlungen verdeutlichen einen Zusammenhang zwischen der Kürze der Texte und den Intentionen des Verlegers für deren Verwendung (vgl. Aust 2006: 16f.). Théophile Gautier, einer der produktivsten Novellendichter des 19. Jahrhunderts war wie Maupassant einerseits von dieser Publikationsform begeistert, nicht zuletzt wegen der Möglichkeit, sich damit in den öffentlichen Diskurs einzuschreiben, empfand diese Veröffentlichung aber auch als Last, da damit häufig eine industriell geprägte Verfielfältigungspraxis und zudem kürzere Produktionszeiten für Autoren einhergingen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kurzformen oft eine Auswirkung medialer Umbrüche, aber auch anderer sozialer und kultureller Umbruchsituationen sind, zumeist exemplarischen Charakter im Sinne einer Minimaldefinition haben und zwischen Offenheit und Geschlossenheit oszillieren. Zeitlich sind sie vielfach auf den Augenblick bezogen, verweisen aber meist darüber hinaus auf große Erzählungen von Liebe, Macht, Tod. Sie beschreiben oft Krisensituationen oder korrelieren mit ihnen, wie die zahlreichen jüngsten Manifestationen während der Corona-Krise, wie Blogeinträge und Bände von Geschichten im virtuellen Raum, gezeigt haben.
Der vorliegende Band experimentiert mit unterschiedlichen Kurzformen des Erzählens, die im Rahmen einer Kooperation einer Professorin für Französische und Spanische Literatur- und Kulturwissenschaft und einer französischen Autorin hervorgegangen sind, die selbst ihr Schreiben als eine Reise begreift, zu anderen Welten und zum Anderen.
Sie begann während der Corona-Epidemie mit Schreibseminaren, die virtuell angeboten wurden und auf eine große Resonanz seitens der Studierenden trafen. Die im Rahmen der Seminare entstandenen Texte zeugen von einem Wunsch, in Zeiten von Krisen und Umbrüchen, globalen Herausforderungen und einem Gefühl, dass die virtuelle Welt zumindest vorübergehend ein neues Zuhause, eine neue Form der Intimität generiert, Bruchstücke aus dem eigenen Leben, aber auch Visionen eines globalen Zusammenlebens teilen zu können. Sie sind teils in unterschiedlichen Sprachen verfasst und tragen dem Gedanken der Mehrsprachigkeit Rechnung, wie auch das Seminar stets im Zwischenraum von Französischer Sprache, Deutscher Übersetzung und Vermittlung, zwischen praktischen Schreibtipps, Interpretationen, dem Wunsch nach Verständigung und Mitteilung oszillierte. Die beiden Seminarleiterinnen waren dabei von vielen der Texte so berührt und überzeugt, dass sie beschlossen, den jungen Autor:innen ein Forum zu bieten, ein Forum des Austauschs, aber auch der Zirkulation von Ideen als Zeichen der Hoffnung in schwierigen Zeiten und als Hommage an das Buch in Zeiten des Virtuellen. Wir danken den vielen Studierenden, die sich während mehrerer Monate und Jahre nicht nur teils zu früher morgendlicher Stunde auf die einzelnen Schreibaufgaben eingelassen haben, sondern auch gezeigt haben, dass Literatur immer und allerorten ihren Platz hat und Zeichen setzen kann.
Die Texte sind aber auch als Ermutigung gedacht, eine Freude am Schreiben und Zuhören mit einer Sensibilität für Interpretationen und literarische Analyse zu verknüpfen.
So sind sie zugleich Ausdruck eines Erasmus-Plus-Projekts “Short Forms beyond borders”, das ebenfalls während der Corona-Pandemie begann als Austausch im Virtuellen Raum und das sich dann in verschiedenen Treffen an Europäischen Universitäten von Angers, Athen, Gießen, Santiago de Compostela fortsetzte.
Im Rahmen des Projektes fanden einige Workshops am Graduate Centre for the Study of Culture statt, welche sich mit dem Einsatz von Kurzformen des Erzählens in der Lehre beschäftigen. Der Workshop “Affordances of Short Forms in Teaching: Literature and Culture” (Michael Basseler & Kirsten von Hagen) liefert wesentliche Impulse für die folgenden Ausführungen.
Ein Ziel des Projekts war, die Möglichkeiten von Kurzformen im Literatur- und Kulturunterricht zu evaluieren. Dabei wurden so unterschiedliche Formen wie
Novelle
Kurzgeschichte
Sehr kurze Geschichte/
Flash
Fiction/Sudden Fiction/
Microfiction/Microrrelato/
Kürzestgeschichte ...
Panegyrik
Haiku
Lied
Fragment
Mikrodrama
Epigramm
Epitaph
Fabula
exploriert.
Es galt aber auch die Kurzform selbst näher zu bestimmen, sich über Kurzformen zu verständigen. Die Kurzform ist, so war bald klar, neben allen kritischen Stimmen auch ein Geschenk: “Small forms are easy gifts—to share, to connect with, to consume with little investment. They offer the pleasure of recognition and the artfulness of economy. Short forms have their own microhistories, light plays on memory and pattern and genre” (Dumitrescu/Holsinger 2019: xii). Auch wenn Kurzformen häufig mangelnde Komplexität und leichte Konsumierbarkeit vorgeworfen wird, sind sie doch zugleich ein Medium des Wissens, das leicht einzusetzen ist, wenn es gilt, Einsichten zu geben: Kurzformen (einschließlich Belletristik) ‚enthalten‘ oder ‚verkörpern‘ nicht einfach eine bestimmte Form oder einen bestimmten Wissensmodus, sie konstruieren und präfigurieren ihn überhaupt erst, z. B. durch formale Eigenschaften und Konventionen. Wie Caroline Levine schreibt, sind Formen überall auffindbar und formen unsere Wirklichkeit bzw. unsere Wahrnehmung von dieser: “Forms are at work everywhere.—Form, for our purposes, will mean all shapes and configurations, all ordering principles, all patterns of repetition and difference.” (Levine, 2015: 2-3)
Zu den Kurzformen gehören alle ästhetischen, epistemischen und sozialen Arrangements im Sinne Caroline Levines, die bewusst und beobachtbar die Regeln der Ökonomie ausnutzen und dadurch Erleichterungen und Zwänge in Bezug auf die Organisation und Struktur unserer soziokulturellen Realität schaffen.
Auch im Unterrichtskontext, d. h. in der Vermittlung von Einsichten, Aussichten, Perspektiven sind Kurzformen zentral, gilt es doch kompakte Informationen zu einem bestimmten Thema zu vermitteln (z. B.: Definition, Zusammenfassung, Lemma usw.), in neue Ideen/Perspektiven einzuführen, zur kritischen Reflexion oder zur Diskussion anzuregen. Kurzformen dienen als textliche Grundlage für genaues Lesen und kreatives Schreiben, sie können kombiniert werden, um intertextuelle Zusammenstellungen zu bilden, die sowohl umfassend als auch überschaubar sind. Kurzformen des Erzählens können zum genauen Lesen, Sehen und Studieren anregen, um Schlüsselelemente, Fragen, Konzepte zu erkennen, die für das breitere Verständnis eines Themas relevant sind. Sie können Anreiz sein zu individueller Lektüre, zum Lesen in Zweiergruppen, zur Diskussion in der Klasse, zu Recherchearbeiten, zur intertextuellen Kompetenz und sind ein Mittel der produktiven und praxisorientierten Aufgabenstellung.
Kreative Schreibaufgaben, wie sie den folgenden Band thematisch und formal strukturieren, können als Einstieg in ein neues Thema dienen, ein zentrales Thema ansprechen, ein Schlüssel zum Verständnis bestimmter Konzepte sein, sie eignen sich für Schlussfolgerungen in Bezug auf zentrale Kategorien oder Konzepte und ermöglichen einen Perspektivenwechsel (Vgl. Hallet, “Working with key passages”). Für die Auswahl der Kurztexte mögen einige Parameter dienen, die Wolfgang Hallet einmal folgendermaßen umrissen hat: Die gewählte(n) Kurzformen sollten eine mehr oder weniger kohärente Einheit bilden, einen klaren Schwerpunkt haben, sie können vertieft werden, d. h. sie ermöglichen kategoriales, konzeptionelles und abstraktes Denken höherer Ordnung, sie können zu abstrakteren Kategorien oder Konzepten führen, die zur Untersuchung anderer (verwandter, ähnlicher, kontrastierender) Kurzformen verwendet werden können. Wie es Dumitrescu und Holsinger formuliert haben, sind diese Kurzformen aber auch geeignet, größere und komplexere Einheiten zu strukturieren, vorzubereiten und zu denken: “Like bees and ants, small texts gather to make monumental works.—Thronging together and attaching to larger things, brief forms and their intellectual potential grow, like a host of stings, or many drops of honey.” (Dumitrescu/Holsinger 2019: viii)
Die hier versammelten Texte, die sich mal stärker an der Novellenform des 19. Jahrhunderts, mal stärker an aktuellen Schreibforen orientieren, sind vor allem eine Einladung zu einer Reise zu neuen und alternativen Welten und Denkweisen.
Vorwort der Herausgeberin Dr. Nirina Ralantoaritsimba:
Cette publication collective est l’aboutissement d‘une co-création à la croisée du monde académique et du monde artistique.
Pour avoir moi-même manqué de cette hybridité universitaire entre « étudier » et « créer » lorsque j’étais étudiante, aujourd’hui en tant qu’autrice et artiste-pédagogue, je souhaite encourager l’alliance entre études littéraires et écriture créative. La rencontre avec le Pr. Kirsten von Hagen à l’Université de Giessen lors d’une résidence d’écriture à Frankfurt-Am-Main m’a permis de le faire et je suis extrêmement reconnaissante envers ma collègue. Grâce à elle, depuis deux ans je mets à profit mon expérience de chercheuse et d’écrivaine dans des cours transdisciplinaires et plurilingues ayant pour trait d’union l’écriture créative. Ainsi nous avons co-animé des séminaires sur l’écriture de soi, la littérature et l’histoire migratoire, la littérature et la sociologie. En complément de la théorie et de l’analyse littéraires enseignées par Kirsten von Hagen, je propose aux étudiants de licence et master des tâches d’écriture diverses, lesquelles donnent lieu non seulement à un partage collectif des écrits, mais aussi à de riches discussions et encouragements réciproques sur le processus d’écriture de chacun.
Ces moments d’enseignement en binôme avec Kirsten sont le lieu suprême de l’apprentissage par l’action.
Parce que ces exercices d’écriture ont été très fructueux et parce que les nouvelles qui sont nées sous les plumes des étudiants nous ont beaucoup plu, au fur et à mesure des semaines, nous avons réfléchi aux conditions d’une publication professionnelle. Grâce à ma rencontre en 2020 avec Axel Dielmann lors de ma résidence d’écriture à Frankfurt, nous avons trouvé l’éditeur idéal. C’est pourquoi je suis heureuse que le travail méticuleux et engagé de nos étudiants puisse aujourd’hui aboutir à une œuvre concrète : un livre publié !
Je tiens à féliciter toutes les écrivaines et tous les écrivains qui ont contribué à cet ouvrage.
Que vos chemins d’écriture se poursuivent et vous procurent toujours joie et épanouissement !
À vous, lectrices et lecteurs, qui vous apprêtez à lire ces pages, je souhaite un beau voyage dans les univers divers de nos jeunes artistes.