E-Book, Deutsch, 228 Seiten
Lämmle / Balint / Dingeldein Protest, Empörung, Widerstand
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7445-0800-1
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zur Analyse von Auflehnungsbewegungen
E-Book, Deutsch, 228 Seiten
ISBN: 978-3-7445-0800-1
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ob Occupy Wall Street, Stuttgart 21 oder der Arabische Frühling: Proteste sind historisch gewachsene Ausprägungen sozialer Auflehnungsbewegungen, die auf den gesellschaftlichen Wandel anpassungsfähig reagieren. Aus dieser Anpassungsfähigkeit und der sich daraus ableitenden Wandlung der Protestformen resultiert eine gewisse definitorische Unschärfe des Protestbegriffs.
Der vorliegende Band erfasst Protestbewegungen in ihrer Vielfältigkeit und Komplexität und untersucht sie als diskursive und folglich kulturell und historisch bedingte Formen aufbegehrenden gesellschaftlichen Handelns. Vorgestellt werden unterschiedliche Protestbewegungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, deren geschichtlicher Wandel sowie systematische Beschreibungen der Quellen, Strukturen, Formen, Akteure, Narrative, Rhetoriken, Räume und Medien des Protests.
Aus der Zusammenschau der versammelten Einzelanalysen wird ersichtlich, dass sich neuere Protestformen aufgrund der sozialen, politischen und ökonomischen Beschleunigungsprozesse immer mehr durch Kurzfristigkeit und Hybridität auszeichnen, sodass ihre wissenschaftliche Beschreibbarkeit immer neue Klassifikations- und Differenzierungsstrategien und -methoden erfordert.
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Protest! Von der Koordination zum Projekt?
Thesen zum Wandel der Vergesellschaftung und Assoziierung in sozialen Bewegungen sowie zur Artikulation des Politischen im kognitiven Kapitalismus1
Klaus Schönberger
Der folgende Beitrag beinhaltet Thesen zur Diskussion, die im Rahmen aktivistischer Debatten über die Bedingungen und die derzeit wahrnehmbaren Veränderungen der Artikulation von Protest durch soziale Bewegungen von verschiedenen Seiten geführt werden (u.a. im Rahmen der Diskussionen um das vom Verfasser gemeinsam mit Ove Sutter herausgegebene Buch Kommt herunter, reiht Euch ein …: Eine kleine Geschichte der Protestformen sozialer Bewegungen (Schönberger/Sutter 2009): Es geht dabei darum, den Begriff des „Projekts“ auf der inhaltlichen Ebene und die „Koordination“ auf der organisatorischen Ebene als gegenüber der „Gemeinschaft“ alternative Praxen der Assoziierung kenntlich zu machen. Diese Begriffe markieren zugleich den Versuch auszuloten, welche Möglichkeiten der gegenwärtige gesellschaftliche Wandel (kognitiver Kapitalismus, Postfordismus etc.) für die Assoziation als Freie und Gleiche mit sich bringt. Denn dieser Wandel tritt nicht nur als Krise der (politischen) Repräsentation politischer Parteien oder Großorganisationen wie Gewerkschaften, Kirchen etc. in Erscheinung, sondern wird auch auf der Ebene von ‚Militants‘, AktivistInnen und FunktionärInnen innerhalb sozialer Bewegungen spürbar und offensichtlich. Dabei geht es nicht um eine weitere Erzählung über Politikverdrossenheit oder Entpolitisierung, sondern um die Frage nach den veränderten Bedingungen des Politischen. Wie steht es um die Möglichkeit einer autonomen und selbstbestimmten Organisierung sowie für eine antagonistische Position innerhalb des neoliberalen und globalisierten Kapitalismus? Hierbei gesellt sich zur Frage nach dem „revolutionären Subjekt“ und seinen Subjektivierungsweisen auch die Frage nach dem Projekt der gesellschaftlichen Emanzipation (die im Folgenden in Thesenform vorläufig beantwortet werden soll). Gemengelage
Der politische Aktivismus kann auf eine lange Reihe von Vergesellschaftungsformen zurückgreifen. In der Theorie der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts (Thomas Hobbes) drängte der imaginierte homogene Wille des „Volkes“ die „Multitude“ zurück. Da die „Menge“ (im Sinne von Spinozas Multitudo) als staatsbedrohlich zum Verschwinden gebracht wurde (Virno 2005), bezog sich die aufkommende Arbeiterbewegung auch in erster Linie auf den vereinheitlichenden Begriff des „Volkes“. Karl Marx sah hingegen die Notwendigkeit der Bewusstwerdung der Arbeiterklasse im Übergang der ‚Klasse an sich‘ zur ‚Klasse für sich‘ und gründete gemeinsam mit Friedrich Engels den „Bund der Kommunisten“. Die „Erste Internationale“ wurde 1866 als „Internationale Arbeiterassoziation“ von der englischen Trade-Union-Bewegung und den französischen Arbeitervereinen initiiert. Hier waren noch AnarchistInnen und KommunistInnen vereint. Das motivierte 1870/71 in Frankreich die „Commune“. Die (deutsche) sozialdemokratische Arbeiterbewegung gründete Vereine nach dem bürgerlichen Gesetzbuch. Die ersten Gewerkschaften gingen aus den Hilfs- und Unterstützungskassen hervor. Die Bolschewiki erfanden die Kaderpartei und den demokratischen Zentralismus. Der Anarchosyndikalismus setzte auf einen „Lokalismus“ (lokale Vereinigungen). 1968, im Zuge der antiautoritären Revolte, betrat die Kommune 1 die Bühne und konkurrierte mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Dieselbe aktualisierte das Schreckgespenst der „Commune“ als Spaßguerilla. Im Gefolge der 68er-Bewegungen entstanden die neuen sozialen Bewegungen, in Deutschland als Bürgerinitiativen, Alternativbewegung und Friedensbewegung, in Italien die Autonomia Operaia und 1977 die Stadtindianer. In Lateinamerika kämpften Stadtguerilla und Tupamaros. Als westeuropäisches Pendant kämpften in Italien nunmehr die Roten Brigaden, in Westdeutschland die Rote Armee Fraktion und die Revolutionären Zellen. Die Black Panther Party artikulierte das in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gefundene Selbstbewusstsein der Afro-AmerikanerInnen. Die „Poplinken“ bescherten uns in den 1980er- und 1990er-Jahren Modelle wie die „Band“ oder die „Posse“. Für Michael Hardt und Antonio Negri (2000: 415) begründet das „posse“ sogar eine „neue Wirklichkeit des Politischen“, weil der Begriff die „singuläre Subjektivität“ der Multitude „am besten zu erfassen“ vermag. Mit der Wieder-„Erscheinung“ der Multitude als theoretisches Konzept im Zuge der Globalisierungskritikbewegung (1999ff.) war aufgrund der theoretischen Implikationen aber auch klar, dass es zu einer Neuauflage der klassischen „Organisationsfrage“ kommen muss. Damit verbunden ist aber nicht nur die Frage nach Formen einer antagonistischen Selbstorganisierung und der Artikulation von Protest, die den sich wandelnden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen angemessen ist, sondern immer auch die Frage nach dem jeweils veränderten Charakter des Politischen. Hardt/Negri (2004: 87) kritisieren den Reduktionismus traditionell linker Vorstellungen über den Modus der Insurrektion (im Sinne von politischem Aufstand und politischer Erhebung). Demnach zeichnen sich diese Ideen (mit Blick auf die Pariser Commune bis zur Oktoberrevolution) durch jenen Schematismus aus, wonach die aufständischen Massenbewegungen politische Avantgarden hervorbringen, der Bürgerkrieg die Einsetzung einer Revolutionsregierung ermöglicht, Organisationen der Gegenmacht eingerichtet werden (welche auf Hegemonie und die Eroberung der Staatsmacht abzielen) und schließlich die Diktatur des Proletariats errichtet wird. Heute sei „eine solche Abfolge revolutionären Handelns“ kaum mehr vorstellbar: „Die Insurrektion verläuft nicht länger in Stufen, sondern entwickelt sich simultan.“ Demnach seien „Widerstand, Exodus, die Aushöhlung der Macht des Feindes und die Errichtung einer neuen Gesellschaft durch die Multitude ein und derselbe Prozess“ (ebd.). Die Wiederbelebung kann daher nur auf der Grundlage neuer Praktiken und Organisationsformen sowie neuer Konzepte erfolgen (ebd.: 247). Allerdings finden diese neuen sozialen Organisationsformen in der traditionellen wie institutionalisierten Linken mitunter ihre größte Feindin. Sie erscheinen ihnen unverständlich, ungeheuerlich bis bedrohlich (ebd.: 216). Das beruht aber eben nicht nur auf dem Unverständnis für veränderte Formen, sondern hat eben auch mit unterschiedlichen politischen Interessen und sozialen Trägergruppen zu tun. Insofern macht es Sinn, wenn Hardt/Negri (ebd.: 215) vor der nostalgischen Sehnsucht der gemäßigten europäischen Linken nach „traditionellen sozialen Formen und Gemeinschaften“ warnen, die sich zudem in Europa meist nicht in „Klagen über die Isolation und den Individualismus unserer Zeit, sondern in der sterilen Wiederholung längst überholter Gemeinschaftsrituale“ ausdrücken. 1. Von der Gemeinschaft zur Koordination und zum Projekt
Während in den Jahrzehnten nach 1968 identitäre Formen von Vergemeinschaftung (oder genauer: „Vergesellschaftung“) in verschiedenen politischen Kontexten dominierten, hat sich im Zuge dessen, was gegenwärtig als Multitude analysiert wird, eine nicht-identitäre Version von Assoziation in Gestalt der Koordination und in Form des Projekts herauskristallisiert. Die Koordination ist netzwerkförmig. Sie ermöglicht ein Modell demokratischer Organisation und entspricht darüber hinaus den gegenwärtig vorherrschenden Formen von Arbeit wie sozialer Vergesellschaftung. Ein Projekt ist instabil, vorläufig und nicht nachhaltig. Allenfalls die Tatsache, dass allenthalben Projekte zu Ende gehen und wieder begonnen werden, ist eine stetige Erfahrung gegenwärtiger AktivistInnen. 2. Erfolg ohne hegemonialen Anspruch
Manuel Castells (2001/1996) diagnostiziert innerhalb der neuen sozialen Bewegungen zunehmend Fragmentierung, Lokalismus und Schnelllebigkeit: Mit steigender Kurzlebigkeit tendieren die sozialen Bewegungen dazu, sich zu fragmentieren, sich eng zu lokalisieren, sich auf ein einziges Problem zu konzentrieren, das sie in ihrem internen Universum einrahmen oder das sie durch ein medienwirksames Symbol zum Leuchten bringen. Ein Projekt braucht kein Programm, und daher wird auch keine Hegemonie beansprucht. Ein Projekt im Rahmen von sozialen Bewegungen richtet sich gegen bestimmte Aspekte innerhalb der globalisierten kapitalistischen Produktionsweise (und muss dieselbe nicht einmal beim Namen nennen) und kann dennoch fallweise oder temporär im konkreten Handgemenge auch „gewinnen“ oder zumindest partiell obsiegen. Projekte richten sich selten gegen „das Ganze“, sondern bleiben bruchstückhaft, erscheinen manchmal auch beliebig. In vielen Fällen erscheinen sie erfolgversprechender als Versuche, sich als Bewegung mit einem vereinheitlichenden Programm zu verabreden. 3. Gleichgerichtete Vielstimmigkeit der Multitude
Das Projekt verweist auf eine Organisierung, die im Französischen mit dem Begriff des „néomilitantisme“ bezeichnet wird und der die dezentrale Organisationsform des Netzwerks eigen ist. Diese Form ist an einem präziser umrissenen Projekt ausgerichtet und zielt aber nicht auf eine inhaltlich weitreichende Gemeinsamkeit: Die Neo-Aktivisten zeichnen sich durch die Vielfalt von Wegen aus, die sich jeweils durch die Bescheidenheit, nur auf eine Thematik beschränkt zu sein, auszeichnen. Das Engagement wird...