Raulff | Das letzte Jahrhundert der Pferde | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 494 Seiten

Raulff Das letzte Jahrhundert der Pferde

Geschichte einer Trennung
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-406-68245-2
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichte einer Trennung

E-Book, Deutsch, 494 Seiten

ISBN: 978-3-406-68245-2
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Seit Urzeiten war das Pferd der engste Partner des Menschen. Es war unverzichtbar in der Landwirtschaft, verband Städte und Länder, entschied die Kriege. Doch dann zerbrach der kentaurische Pakt, und in nur einem Jahrhundert fiel das Pferd aus der Geschichte heraus, aus der es jahrtausendelang nicht wegzudenken war. Furios erzählt Ulrich Raulff die Geschichte eines Abschieds – die Trennung von Mensch und Pferd.

Der Exodus des Pferdes aus der Menschengeschichte ist ein erstaunlich unbeachteter Vorgang. Ganze Bibliotheken zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts schweigen sich aus über das Pferd, das gleichwohl in Europa und Amerika allgegenwärtig war – bis das letzte Jahrhundert der Pferde in der Zeit Napoleons anbricht und mit dem Ersten Weltkrieg ausklingt. Ulrich Raulff zieht in seinem neuen Buch alle Register der Kultur- und Literaturgeschichte und beschreibt mit beeindruckender Erzählkunst eine untergehende Welt – ein Kapitel vom Auszug des Menschen aus der analogen Welt.

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Weitere Infos & Material


1;Cover;1
2;Frontispiz;2
3;Titel;3
4;Impressum;4
5;Inhalt;5
6;DerLange Abschied;7
7;A. DerKentaurische Pakt. Energie;24
7.1;Die Pferdehölle;29
7.2;Ein Unfall auf dem Land;55
7.3;Ritt nach Westen;79
7.4;Der Schock;104
7.5;Die jüdische Reiterin;131
8;B. Ein Phantom der Bibliothek. Wissen;147
8.1;Blood and speed;152
8.2;Die Anatomiestunde;174
8.3;Kenner und Täuscher;197
8.4;Die Forscher;220
9;C. Die Lebendige Metapher. Pathos;247
9.1;Napoleon;251
9.2;Der vierte Reiter;269
9.3;Die Peitsche;288
9.4;Turin, ein Wintermärchen;317
10;D. Der Vergessene Akteur. Historien;340
10.1;Zahn und Zeit;343
10.2;Land nehmen;360
10.3;Das elliptische Tier;379
10.4;Herodot;393
11;Anhang;406
11.1;Dank;406
11.2;Anmerkungen;408
11.3;Bildnachweis;451
11.4;Register;455
12;Farbtafeln;462
13;Zum Buch;494
14;Über den Autor;494


DER LANGE ABSCHIED
Wer um die Mitte des 20. Jahrhunderts auf dem Land geboren wurde, wuchs in einer alten Welt auf. Sie unterschied sich wenig von derjenigen, die hundert Jahre früher da gewesen war. Agrarische Strukturen sind von Natur aus träge. Das Land dreht sich in langsameren Rhythmen. Für Stadtkinder sah die Umwelt anders aus. Sie war geprägt von Maschinen – und von Ruinen, die ihrerseits das Resultat mechanischer Zerstörung waren. Das Land in seiner Zurückgebliebenheit hatte sich dem Sprung in die technische Moderne noch fast ein Jahrhundert lang entzogen. Gewiss, auch hier hatten die Maschinen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts seltene, experimentelle Ausnahmen gewesen waren, der Zahl nach zugenommen. Überdies waren sie kleiner, praktischer, alltäglicher geworden und sahen nicht mehr aus wie mittelalterliche Belagerungsmaschinen oder Saurier aus Jurassic Park. Immer häufiger kam es vor, dass sie von kleinen Traktoren gezogen wurden, Geräten, die das 19. Jahrhundert noch nicht oder allenfalls in Gestalt enormer Dampfmaschinen gekannt hatte. Die Traktoren um die Mitte des 20. Jahrhunderts leisteten 15 oder 20 PS, hatten kurze, einprägsame Namen wie Fendt, Deutz, Lanz oder Faun und waren mit wenigen Ausnahmen wie etwa dem grauen Lanz grün lackiert. Im Rückblick wirken sie wie fragile Grashüpfer, verglichen mit den Mammuts von heute mit 200 PS und schalldichter Kabine. Abgesehen von diesen Vorreitern der Mechanisierung auf dem Land, deren ruckhafte Bewegungen und deren Lärm nicht ins romantische Bild des 19. Jahrhunderts passten, hatte sich nicht viel geändert. Immer noch waren Pferde, schwere belgische Kaltblüter, starke Trakehner und stämmige Haflinger, das am weitesten verbreitete und am meisten gebrauchte Transport- und Zuggerät auf den schmalen, gewundenen Straßen wie an den Abhängen der Felder und in den Schluchten der Wälder. Über den Winterbildern meiner Erinnerung steht der Dampf ihres Atems und ihrer erhitzten Flanken, über den Sommerbildern liegt der Duft ihrer braunen Felle und hellen Mähnen. Immer noch spüre ich das Entsetzen, mit dem ich zusah, wie ihnen beim Beschlagen vierkantige Eisennägel in das, was ich für ihre Fußsohlen hielt, getrieben wurden. Szenen von solcher Drastik hatte ich bis dahin nur in Kirchen, auf Bildern der Passion Christi erblickt. Immer wenn ich später von jemandem sagen hörte, er sei «beschlagen», was soviel bedeutete wie: er sei gebildet oder belesen, tauchten vor meinen Augen die Vierkantnägel auf. In den Ställen der Bauern, die noch von den Erträgen des Landes lebten und ihre bescheidene Wirtschaft nicht gegen einen Arbeitsplatz in der Fabrik eingetauscht hatten, nahmen die Boxen der Pferde den kleineren, aber nobleren Teil ein. Die Kühe, Rinder, Kälber, Schweine und Hühner machten sich breiter, sie stanken heftiger und führten das große Wort, sie waren, mit einem Wort, die Plebs im Stall; die Pferde waren selten, kostbar und wohlriechend, sie aßen manierlicher und litten spektakulärer, besonders ihre Koliken waren gefürchtet. Wie lebendige Skulpturen standen sie in ihren Verschlägen, nickten mit den schönen Köpfen und signalisierten mit ihren Ohren Misstrauen oder Verdacht. Die Pferde hatten ihren eigenen Campus, auf den sich nie eine Kuh verirrte, von Schweinen oder Gänsen ganz zu schweigen. Kein Bauer wäre auf die Idee gekommen, die Weide der Pferde mit Stacheldraht zu umgeben, hinter dem sich Kühe und vor allem Schafe nicht selten fanden. Bei den Pferden genügte ein bisschen Holz oder ein leichter Elektrozaun. Aristokraten sperrt man nicht ein, man erinnert sie an ihr Ehrenwort, auf Flucht zu verzichten. Ich sehe uns, meinen Großvater und mich, an einem Tag Mitte der Fünfziger auf einer Anhöhe stehen, von der sich unser Hof, das umliegende Land und sogar ein Stück des fernen Laubwaldes, durch den sich eine schmale Straße den Berg hinaufwand, überblicken ließen. Seit einer Weile war die Stille über der ländlichen Einsamkeit zerrissen von etwas, das wie eine bucklige Ameise aussah, die sich langsam und geräuschvoll den Berg hinauf quälte. Im Näherkommen gab sich die Ameise als der altertümliche Mercedes Diesel eines meiner Onkel zu erkennen. Mit olympischer Gravität näherte sich der schwere Wagen. Mein Großvater machte eine abschätzige Bemerkung über den Diesel, in der das Wort Dreschkasten vorkam, und sah mit wachsender Skepsis zu, wie mein Cousin, der Mann am Volant, den festen Weg verließ und quer über das Weideland direkt auf uns zusteuerte. Schon nach wenigen Metern auf dem feuchten Gras verlor er die Kontrolle über sein Gefährt. Der Wagen brach seitlich aus, kam ins Gleiten und verwickelte sich in den Elektrozaun, der die Pferdeweide umgab, bis er endlich, von einer dunkelblauen Wolke umgeben, vor einem Baumstumpf zum Stehen kam. Unter der abziehenden Wolke kam der Olympier zum Vorschein, der jetzt seine Blitze nach innen schleuderte: Der Gefangene des Elektrozauns hatte sich in eine Art umgekehrten Faradayschen Käfig verwandelt, der über die zahlreichen Eisenteile jeden Stromstoß an seinen Insassen weitergab. Der kurze Gruß zum langen Abspann: Die Wege trennen sich. Konkurrenz der Pferdestärken: Das Dieselross hat 12 PS, der Hafermotor nur zwei, die aber besser riechen. Nachdem alle Versuche zur Selbstbefreiung von Fahrer und Wagen fehlgeschlagen waren, betrat als Nothelfer ein schwerer belgischer Kaltblüter die Szene. Vor die hintere Stoßstange des Diesel gespannt, zog er mit den Bärenkräften eines gutmütigen Riesen das havarierte Automobil auf festen Grund zurück. Jeder kennt das Bild von William Turner, auf dem ein qualmender Dampfschlepper ein stolzes Kriegsschiff unter gerefften Segeln, die Fighting Temeraire, zu ihrer letzten Anlegestelle im Abwrackdock schleppt. In unserem Fall hatte das Schicksal, ironisch wie so oft, noch einmal das historische Blatt gewendet: Hier war es der Gaul, das von der Geschichte pensionierte Schlachtross, das jetzt das Auto zog: Noch einmal legte die alte Welt sich für die neue ins Geschirr. Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt die Sache definitiv entschieden: Mensch und Pferd hatten getrennte Wege eingeschlagen. Da der Mensch es künftig vorzog, die seinen mit Kraftwagen zu befahren, hatte er sie planiert und asphaltiert. Das Pferd war buchstäblich überholt. Es gehörte zu jenem Teil der Wirklichkeit, den Condoleeza Rice, die vormalige amerikanische Außenministerin, als the roadkill of history bezeichnet hat; es gehörte zu denen, die die Geschichte überfahren hatte. Jahrhunderte lang hatte sich die Menschheit das Schicksal des Besiegten immer im Bild dessen gedacht, der unter die Hufe des Siegers gerät und von diesem überritten wird. Jetzt, im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, war es das Pferd, das sich von der Geschichte überritten oder vielmehr überfahren fand. Während der längsten Zeit der aufgezeichneten Geschichte hatte das Pferd dem Menschen geholfen, seinen gefährlichsten Feind zu besiegen, den anderen Menschen; jetzt lag es selbst am Rand der Straße und sah den Sieger über sich hinwegrollen. Sechshundert Jahre Schießpulver hatten dem Pferd nicht seinen angestammten Platz als wichtigste Kriegswaffe des Menschen streitig gemacht – einhundert Jahre Mechanisierung des Krieges genügten, es obsolet zu machen. Das Pferd war einer der Besiegten der jüngsten Geschichte. So einfach und glatt, wie man sich die Trennung von Mensch und Pferd, von mechanischer und animalischer Kraft vorstellt, ist sie indessen nicht verlaufen. Der Mensch war nicht an einem Tag Reiter und Kutscher und am nächsten Tag Kraftfahrer und Automobilist. Die Trennung ereignete sich in mehreren Phasen, die sich über einen Zeitraum von anderthalb Jahrhunderten verteilen, vom frühen 19. Jahrhundert, das verschiedene Techniker mit dampfgetriebenen Fahrzeugen und Laufrädern experimentieren sah, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, als das Automobil mit Verbrennungsmotor das Pferd als Antriebsmaschine auch zahlenmäßig überholte. Das auf den ersten Blick Überraschende ist, dass während der längsten Strecke dieses Zeitraums der Verbrauch an Pferden immer weiter stieg, statt, wie man erwarten könnte, zu sinken. Erst gegen Ende des Zeitraums, Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, geht der Verbrauch an Pferden zurück, dann allerdings rapide. Insofern erlebt das letzte Jahrhundert des Pferdezeitalters nicht nur den Exodus des Pferdes aus der Menschengeschichte, sondern zuvor noch seine Apotheose: Nie zuvor war die Menschheit so stark auf Pferde angewiesen wie zu der Zeit, als in Mannheim und Cannstadt schon die Verbrennungsmotoren knatterten. Wenn ich trotz der besagten anderthalb Jahrhunderte gelegentlich vom letzten Jahrhundert der Pferde spreche, geschieht dies nicht aus Gründen gedanklicher Faulheit oder weil es griffiger klingt. Dem Prinzip nach deckt sich das Ende des Pferdezeitalters ziemlich genau mit dem, was man als das lange 19. Jahrhundert zu nennen sich angewöhnt hat: Es beginnt mit Napoleon und endet mit dem Ersten Weltkrieg. Seitdem sind oder werden praktisch alle technischen Systeme, vom Verkehr bis zur Armee, denen das Pferd die nötige Traktionsenergie...


Ulrich Raulff ist Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar. Zuvor war er u. a. Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Er hat Bücher über Marc Bloch und Aby Warburg geschrieben und für seine Arbeiten den Anna-Krüger-Preis für wissenschaftliche Prosa und den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik erhalten. Sein bei C.H.Beck erschienenes Buch Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben wurde 2010 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für das beste Sachbuch ausgezeichnet.



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