Reichenbach Psychomotorik
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8463-3046-3
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 112 Seiten, Gewicht: 125 g
ISBN: 978-3-8463-3046-3
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Hauptteil
1 Was ist Psychomotorik? 9
2 Wurzeln der Psychomotorik – Gymnastik, Rhythmik, Sinnes- und Bewegungsschulung 13
3 Theoretische Grundlagen der Psychomotorik – Entwicklungspsychologie und „Theoriebrillen“ 28
4 Ausgewählte Praxiskonzepte psychomotorischer Förderung 44
5 Wie entwickelt man ein psychomotorisches Förderkonzept für das eigene Arbeitsfeld? 86
Serviceteil
Ausbildungsmöglichkeiten 96
Glossar 98
Literatur 102
Sachregister 112
3 Theoretische Grundlagen der Psychomotorik – Entwicklungspsychologie und „Theoriebrillen“
Psychomotorik als eigenständiges wissenschaftliches wie auch anwendungsbezogenes Fachgebiet bedient sich für seine theoretische Fundierung in erster Linie übergreifender entwicklungspsychologischer Grundlagen. Letztere werden in diesem Kapitel im Überblick vorgestellt, ehe anschließend verschiedene theoretische Sichtweisen – sogenannte „Theoriebrillen“ (Seewald 1993) – des angewandten Förderkonzeptes „Psychomotorik“ dargelegt werden. Beides dient dazu, die in Kapitel 4 vorgestellten Konzepte besser einordnen und verstehen zu können.
Entwicklungspsychologische Grundlagen Im Alltag stellen sich für jede pädagogische oder/und therapeutische Fachkraft die Fragen: wieso, weshalb und warum sich ein Mensch wie entwickelt.
Merksatz Es geht darum, Entwicklungsprozesse (besser) zu verstehen und zum Teil auch „vorherzusagen“. Das Erkennen von Entwicklungsprozessen bzw. deren Entstehung ist für die Unterstützung bzw. Förderung von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen bedeutend.
Um Entwicklung verstehen zu können, muss man sich mit einer Vielfalt von individuellen Verhaltensweisen und Entwicklungsmöglichkeiten auseinandersetzen. Das heißt, dass jeder Mensch aufgrund seiner speziellen Lebensbedingungen in Familie und Gesellschaft, seinen verschiedenen Interessen und Bedürfnissen einzigartig und somit unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen ausgesetzt ist. Ein Ziel theoriebezogener 29Auseinandersetzung ist es, wiederkehrende Muster zu erkennen, um dann planmäßig zu handeln.
Beispiel Wenn sich ein Kind im Alter von fünf Jahren ungeschickt zeigt, Schwierigkeiten beim Anziehen, Malen, Hüpfen oder Werfen hat, dann deutet dies auf eine Entwicklungsbeeinträchtigung der ? motorischen Funktionen hin, und es kann eine gezielte Bewegungsförderung eingeleitet werden.
Mittels Theorien bzw. theoretischer Modelle zur Entwicklung können solche Muster erkannt, Zusammenhänge hergestellt und Veränderungen für eine positive Entwicklung eingeleitet werden. Baur schlägt vor, entwicklungstheoretische Überlegungen mittels folgender drei Fragen zu beantworten (1994, 28): • Was verändert sich? Aus einem bestimmten ? Entwicklungsbereich (Bewegung, Sprache, ? Emotion u.a.) werden Merkmale definiert oder beschrieben, welche im Hinblick auf Veränderungen betrachtet werden. Zum Beispiel können im ? Entwicklungsbereich Bewegung die Merkmale Gleichgewicht, Kraft oder Tempo genauer erfasst und Veränderungen festgehalten werden. • Wie vollzieht sich Entwicklung? Es werden Annahmen in Bezug auf Entwicklungsverläufe formuliert, indem die Veränderungen der Merkmale beschrieben werden. Die Betrachtung kann unter qualitativen oder quantitativen Gesichtspunkten an verschiedenen Zeitpunkten erfolgen. Eine quantitative Betrachtung ist z.B. das Zählen von Sprüngen beim Seilchenspringen, und qualitativ bedeutet in der gleichen Situation eine Beschreibung der Bewegungen beim Seilchenspringen hinsichtlich der Ausführung. Quantitative Forschung rückt eher die Frage in den Vordergrund, ob und um wie viel sich etwas verändert hat, und qualitativ gesehen geht es eher darum, wodurch und was genau sich verändert hat. • Wodurch kommen Veränderungen zustande? Gefragt wird, welche ? endogenen (d.h. vom Individuum selbst kommenden) und/oder ? exogenen (d.h. von außen einwirkenden) Faktoren Entwicklungsprozesse steuern bzw. Veränderungen bewirken. 30
Merksatz Auch wenn Entwicklung immer als ein Prozess von Veränderung spezifischer Aspekte verstanden wird, so ist es unterschiedlich, wie bzw. wodurch sich die Veränderung erklären lässt.
Erklärungsansätze für Entwicklung Beispielhaft könnten folgende drei Annahmen die Entwicklung von Menschen erklären (vgl. Flammer 2004): 1. Entwicklung ist eine Abfolge alterstypischer Zustandsbilder: Hier steht die Frage nach Lebensaltersetappen im Mittelpunkt, d.h. die Frage, wann bzw. mit welchem genauen Lebensalter ein Verhalten als „altersgemäß“ anzusehen ist. So unterteilt Erikson zum Beispiel den gesamten Lebenszyklus in acht Lebensalter (Erikson 1979). Dieses sind acht kritische Perioden, in denen verschiedenen Bedürfnisse vorherrschen. Wenn der Psychomotoriker z.B. weiß, dass ein Kind im Alter von etwa sechs Jahren ein großes Bedürfnis hat, etwas zu lernen, so können ihm entsprechend selbsttätige und gemeinsame Tätigkeiten angeboten werden. Unabhängig von Theorien bestehen beim Praktiker auch oft die Fragen, in welchem Alter ein Kind welche Fähigkeit erwerben sollte (z.B. laufen, Fahrrad fahren, sprechen etc.). Auch diese alltäglichen Fragen lassen sich diesem Entwicklungsverständnis zuordnen. 2. Entwicklung sind reifungsbedingte Veränderungen: Reifung wird dabei als eine organisch-biologisch gesteuerte Veränderung verstanden. Die Veränderung verläuft in diesem Verständnis biologisch bedingt und vorgegeben optimal vom Kleineren zum Größeren, vom Einfacheren zum Komplexeren, vom Weniger zum Mehr oder vom weniger Guten zum Besseren. So finden i. d. R. beim Menschen zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr große Veränderungen im Zentralnervensystem statt, die vermutlich zu plötzlichen großen Entwicklungsfortschritten führen. Ein anderes Beispiel ist das Durchlaufen der Pubertät als eine organisch-biologische Veränderung, die wiederum zu bestimmten Verhaltensweisen beim Jugendlichen führt, die es zu verstehen und zu berücksichtigen gilt. 3. Entwicklung dient der Sozialisation und ist Teil von ihr: Hier wird das Hineinwachsen in eine Kultur mit ihren Institutionen, Normen und Rollen berücksichtigt. Sozialisation meint dabei die institutionellen 31Aspekte des Lebenslaufs und die Prozesse der Integration in die gesellschaftlichen Strukturen. Ein Beispiel hinsichtlich der Berücksichtigung kultureller Faktoren wäre die Aufnahme von Kindern mit Migrationshintergrund in psychomotorischen Förderangeboten. Das Verständnis und die Berücksichtigung anderer Lebenseinstellungen und Werte sowie das Vertrautmachen mit eigenen Werten ist sicherlich ein interessantes Thema im Rahmen einer psychomotorischen Förderung. Institutionell bedingte Sozialisationsbedingungen, wie z. B. der Eintritt in die Schule, kann insofern Thema in der psychomotorischen Förderung sein, als dass Kinder bei der Entwicklung der sog. Vorläuferfertigkeiten (z. B. Entwicklung eines mathematischen Verständnisses über Bewegtes Lernen) unterstützt werden. Nach Montada (2002, 5 f.) lassen sich übergeordnet vier grundlegende Entwicklungskonzeptionen voneinander unterscheiden (s. Tab. 2): Tab. 2: Entwicklungskonzeptionen nach Montada Umwelt Person Aktiv Passiv Aktiv interaktionistisch strukturgenetisch Passiv umweltdeterministisch biogenetisch • Person passiv – Umwelt passiv (biogenetische bzw. organismische Organisation; ? endogenistische Theorien): Entwicklung findet als natürlicher Wachstums- und Reifungsprozess statt und ist durch genetische Programme gesteuert. Entwicklung erfolgt in Stufen bzw. Phasen entsprechend einem universell gültigen „Programm“. ? Exogene Einflüsse können fördern oder hemmen, aber die Abfolge nicht ändern. • Person aktiv – Umwelt passiv (strukturgenetische bzw. ? konstruktivistische und ? systemische Theorien; Selbstgestaltungstheorien): Eine Person entwickelt sich aufgrund ihrer eigenen Aktivität weiter, d.h., Entwicklung vollzieht sich zielorientiert und erkenntnisbezogen. Die Umwelt kann nicht steuernd eingreifen, liefert aber Anregungen. • Person passiv – Umwelt aktiv (? umweltdeterministische bzw. ? exogenistische und ? mechanistische Theorien): Entwicklung vollzieht 32sich in Abhängigkeit von Umwelteinflüssen. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen lebenslang lernen und damit auch lebenslang gefördert werden können. Das Individuum ist von seiner Umwelt abhängig bzw. Entwicklung ist von außen lenkbar, kontrollierbar und beeinflussbar. • Person aktiv – Umwelt aktiv (? interaktionistische bzw. handlungstheoretische oder auch ? ökologische Theorien): Die Person produziert die eigene Entwicklung, das Handeln vollzieht sich dabei in einer Person-Umwelt-Interaktion; es wird ebenfalls davon ausgegangen, dass Menschen lebenslang lernen und damit auch lebenslang gefördert werden können. Unabhängig davon, wie man sich entwicklungstheoretischen Fragestellungen annähert und welche Fragen für einen selbst im Vordergrund stehen, liegt allen Überlegungen immer ein Menschenbild zugrunde, auch wenn dies nicht unbedingt von vornherein transparent ist (Haeberlin 1998). Jeder Psychomotoriker hat eine Vorstellung von menschlicher Entwicklung und somit ein Menschenbild. Wichtig ist, dieses für sein praktisches Tun zu erkennen und zu reflektieren, damit das eigene Handeln begründet und zielgerichteter ist. Als Zwischenfazit wird festgehalten :
Merksatz Es gibt keine universelle Theorie der allgemeinen Entwicklung. Es gibt auch keine allgemein akzeptierte, umfassende Theorie...