E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Systemaufstellungen
Schneider / Hövel Vorüber ist nicht vorbei
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8497-8431-7
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichten und Theorie zur Aufstellung in der Einzelarbeit
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Systemaufstellungen
ISBN: 978-3-8497-8431-7
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Menschen sind, oft ohne es zu ahnen, über Generationen mit den Schicksalen ihrer Vorfahren verbunden, was sie in ihrem gegenwärtigen Leben einschränken oder krank machen kann. Familienaufstellungen können helfen, sich mit diesen unbewusst wirkenden Geschichten zu befassen und sie in ihrer Dynamik zu verstehen.
Sieglinde Schneider und Gabriele ten Hövel vermitteln verständlich die Theorieansätze des Familienstellens und analysieren anhand von 60 spannenden und berührenden Geschichten die unterschiedlichsten Schicksale. Nach Themen sortiert – z. B. Symptome, Trauma, die Beziehung zu den Eltern, Paarthemen, Erben – und mit kurzen Reflexionen versehen, vermitteln sie die Essenz der Aufstellungsarbeit mit Familien und bieten zugleich viele praktische Anregungen und Tipps für Aufstellende.
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2. Geschichte: »Der Papa will das nicht«
Ich habe in Mexiko in manchen Fortbildungskursen mit Straßenkindern gearbeitet, die die Therapeuten mitgebracht hatten. Da war ein Junge – so aggressiv mit seinen zwölf Jahren, dass sie in dem Haus, wo sie die Straßenkinder aufgesammelt haben, gesagt haben: »Wir können ihn nicht mehr behalten.« Die Therapeutin hat auch gesagt: »An den kommt man nicht mehr ran.« Er hat die Erzieher, die Therapeutin nie angeschaut, wenn sie mit ihm gesprochen haben. Sie hat ihm gesagt: »Da ist jemand da für dich, die arbeitet mit den Kindern. Geh mit mir hin zu ihr, sonst darfst du nicht mehr hier im Haus bleiben.« Der Junge saß da, auch mich hat er nicht angeschaut – aber die Playmobilfiguren haben ihm gefallen. Ich habe gesagt: »Miguel, du musst gar nichts sagen. Du nimmst einfach die Figuren und stellst dich und deine Eltern auf.« Er hat sie wirklich aufgestellt, und ich konnte mit ihm arbeiten. Er war ganz klar. Seine Figur schaute auf seinen Vater. Der war ein Mörder. Er hat auf der Straße Menschen erstochen. Auch Miguel hatte schon öfters auf der Straße andere mit dem Messer attackiert und verletzt. Ich sagte zu ihm: »Ja, schau her, du machst das auch. Willst du auch ins Gefängnis wie dein Papa?« Der Vater hatte sich im Gefängnis umgebracht. »Wie schaut dein Papa dich an, wenn du das auch machst?« Sagte er ganz leise: »Er will das nicht.« Ich habe seine Figur den Papa anschauen lassen und gesagt: »Papa, du bleibst mein Papa, auch wenn ich anders lebe als du. Auch wenn ich in die Schule gehe, einen Beruf lerne, Geld verdiene und es mir gut geht.« Er ging näher zum Tisch, nahm seine Figur und suchte einen Platz dafür. Dann wollte er noch zwei Figuren für seine Pflegeeltern dazustellen. Die hat er hinter sich gestellt. Von der Pflegefamilie war er weggelaufen. Aber die Pflegeeltern wollten ihn trotzdem wieder zu sich nehmen und weiter im Kontakt mit seiner Mutter bleiben. Bisher hatte er das immer abgelehnt. Er wollte nirgends hin. Jetzt hatte er die Pflegefamilie hinter sich gestellt. Ich sagte zu ihm: »Da bist du gut aufgehoben, die Mama freut sich auch.« Dann ist er aufgestanden, hat gesagt: »So, jetzt ist das so.« Er kam zu mir, gab mir einen Kuss auf die Wange, ging zur Therapeutin und gab auch ihr einen Kuss. Dann ist er rausgegangen. Wir haben beide geheult. Alle, denen wir etwas Existenzielles verdanken, brauchen im System einen Platz
Wer wird oft vergessen? Wer hat keinen Platz und »meldet« sich später wieder? Frühere Partner, verstorbene Kinder, uneheliche Kinder, weggegebene Kinder, Verstoßene. Familienmitglieder, die Unrecht und Schlimmes getan oder auch erlitten haben: beispielsweise eine Tante, die im Dritten Reich in der Psychiatrie umgebracht worden ist, Kriegsschicksale und Ähnliches. Warum sind vergangene Partner so wichtig? Ganz einfach: Wenn ein Elternteil bei einem früheren Partner geblieben wäre, gäbe es das Kind nicht. Wenn die erste Frau eines Opas nicht gestorben wäre, hätte der Opa nicht die Oma geheiratet, gäbe es deren Kind und die Enkel nicht. Diese erste Frau muss den Platz bekommen. Was genau heißt das »den Platz bekommen«? Reicht es, zu sagen: »Aha, die gibt es auch«? Nein, das reicht nicht. Sie braucht Würdigung. Sie hat ihren Platz freigemacht für eine andere und so ermöglicht, dass diese andere Frau das Leben weitergibt. Ein anderes Beispiel: Wenn ein Kind aus erster Ehe vom zweiten Mann adoptiert wird, wird der leibliche Vater häufig wie ausradiert. Die »Hintergrundmatrix«
Ich hatte mal in einem Seminar mit Eltern von behinderten Kindern einen Vater, der sagte: »Ich bin zum zweiten Mal verheiratet. Ich habe meine erste Ehe annullieren lassen.« Ich fragte: »Warum?« Er sagte: »Aus religiösen Gründen. Ich bin katholisch, meine zweite Frau auch. Eine kirchliche Trauung war uns wichtig. Die Familie meiner zweiten Frau bestand darauf.« Die Annullierung einer Ehe bedeutet aber häufig: Ich lösche einen faktischen Teil meiner Geschichte. Ein Grund für die kirchliche Eheaufhebung ist: Es gab nie den Willen zur Ehe. Da muss man dann mit Zeugen nachweisen, dass man diese Ehe nur eingegangen ist, weil man dazu gezwungen wurde. Der zweite Grund ist: Die Ehe wurde nie vollzogen. Aber wie sollte das bei diesem Mann gehen? Er hatte drei Kinder von dieser ersten Frau. Wie er die Annullierung durchgekriegt hat, weiß ich nicht. Was bedeutet die Annullierung einer Ehe systemisch? Es ist die Verleugnung einer Ehe, einer Bindung – als hätte es sie nie gegeben. Das hat Folgen. Es ist, als würde das systemische Gewissen unbewusst darauf drängen, dass man dafür ein Opfer bringen muss. Manchmal stirbt dann das erste Kind in der zweiten Ehe oder wird behindert. Manchmal bleiben die nachfolgenden Kinder selbst kinderlos. Oder ein nachfolgendes Kind heiratet nie oder erlebt selbst, auf schmerzhafte Weise verlassen zu werden. Und wenn die späteren Kinder davon wissen? Wenn sie davon wissen – mit allen Hintergründen –, haben die ersten Kinder und die erste Frau wieder ihren Platz im System. Das klingt etwas moralisch. Nein, mit Moral hat das nichts zu tun – überhaupt nicht. Es geht nur darum, dass die Kinder ihr Leben nicht »ohne es zu wissen und ohne es zu wollen« an dem oder den »Annullierten« ausrichten müssen. Ist das denn automatisch so? Zumindest ist es möglich. Der Kern der Aufstellungsarbeit ist doch, dass wir durch Wissen, Verstehen und Erkennen, was in unserem Familiensystem geschehen ist, Verstrickungen loslassen und, soweit möglich, aussteigen können. Alle, denen wir etwas Existenzielles verdanken, brauchen im System einen Platz. Alle, die einen Preis gezahlt haben, müssen gewürdigt werden, sonst können ihre Nachkommen den Gewinn nicht nehmen. Das ist die »Hintergrundmatrix«, die ich für meine Hypothesen immer im Kopf habe. Wer muss in Familien noch gesehen werden? Uneheliche Kinder werden manchmal verschwiegen, früh verstorbene Kinder oder Fehlgeburten werden oft nicht mehr erwähnt und vergessen. Frühere Beziehungen, wenn sie schon durch »Tisch und Bett« verbunden waren, müssen offen anerkannt sein. Zählt schon die Beziehung oder nur, wenn Kinder gekommen sind? Auch die Beziehung allein kann bedeutsam sein. Aber wenn ein Kind entsteht, egal ob aus einem One-Night-Stand oder einer kurzen Beziehung oder einer langen Liebe und egal ob es lebt oder gestorben ist, verbindet das zwei Menschen dauerhaft – auch wenn sie längst auseinandergegangen sind. Das braucht einen Platz. Die dürfen nicht verschwiegen oder vergessen werden, nicht ausgeschlossen werden. Wenn Kinder wissen, die Mama oder der Papa waren vorher schonmal mit jemand anderem verheiratet, aber sie haben sich getrennt, wenn sie wissen, Papa und Mama sorgen auch für die Kinder aus der ersten Ehe oder einer früheren Beziehung, ist es in Ordnung. Warum ist das für Kinder so wichtig? Viele würden sagen: Das ist Schnee von gestern, für Kinder zählt nur das Hier und Jetzt. Kinder müssen wissen: Papa ist der zweite Mann von Mama, und es gab einen ersten Mann. Denn als Kind verdanke ich dieser Trennung vom ersten Mann mein Leben. Das ist existenziell wichtig. Ich bin immer wieder von den Socken, wie viele Klienten hier sitzen und zum Beispiel nicht wussten, dass die Mutter oder der Vater schonmal verheiratet waren. Ganz zu schweigen von »unordentlichen« Geschichten, über die man früher gar nicht gesprochen hat. Das hat nichts mit Moral zu tun, sondern damit, das, was war, anzuerkennen. Von Clowns und Retter-Kindern: Der Platz
Es wird ja verschiedentlich kritisiert, dass die Vorstellung der »guten Lösung für alle« bei einer Aufstellung einer kindlichen Wunschvorstellung entspringe. Was sagst du dazu? Ich kann nur kraftvoll in der Welt stehen, wenn ich meinen Platz habe und einnehme. Diese Einsicht verdanken wir Bert Hellinger. Das hat nichts Naives, das ist keine kindliche Wunschvorstellung. Wenn wir in Aufstellungen mit Stellvertretern die Plätze so verändern, dass es möglichst allen gut geht, ändert das natürlich nichts an der realen Familiengeschichte. Aber es vermittelt ein neues seelisches Bild. Der Klient kann sich vorstellen, wer wo richtig stehen würde. Dieses Bild vom »richtigen Platz« bewirkt oft reale positive Veränderungen in Beziehungen. Und in der eigenen Seele entstehen heilsame Bilder. Die helfen, von der Vergangenheit irgendwie befriedet Abschied zu nehmen. Wie machst du das in deiner Arbeit? Du hast ja keine Stellvertreter. Wo ist da der Fokus im Aufstellen? Was die Stellvertreter in einer Aufstellung selber rückmelden oder machen, das erforsche ich...