E-Book, Deutsch, 312 Seiten
Sigusch Kritische Sexualwissenschaft
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-593-44107-8
Verlag: Campus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Fazit
E-Book, Deutsch, 312 Seiten
ISBN: 978-3-593-44107-8
Verlag: Campus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Volkmar Sigusch, Arzt und Soziologe und einer der renommiertesten Sexualwissenschaftler weltweit, versammelt in diesem Band seine zentralen Texte und Thesen, mit denen er die Kritische Sexualwissenschaft begründete. Im Zentrum dieses Fazits steht die Überzeugung: Keine Sexualität eines Menschen ist mit der eines anderen identisch. Weil sich das Sexuelle der Systematisierung entzieht, kann darüber theoretisch nur in Fragmenten und mit Bezug auf die gelebte Praxis gesprochen werden. Die Auseinandersetzung reicht von Natur, Sexualität und Liebe über Fetischismus, Transsexualität, Feminismus, Pornografie, AIDS, sexuelle Störungen und Paartherapie bis hin zu Neosexualitäten und Liquid Gender.
'Sigusch zeigt, wie der zwischen Mystifikation und Sensation eingeklemmten Sexualwissenschaft ein Weg ins Freie eröffnet werden kann.' FAZ
Autoren/Hrsg.
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Das gemeine Lied der Liebe
Unsere Liebe ist Leben und Tod in eins. Sie ist weich, warm und weiblich. Sie eifert nicht und treibt nicht Mutwillen. Sie bläht sich nicht auf und stellt sich nicht ungebärdig. Sie sucht nicht das Ihre und lässt sich nicht erbittern. Sie verträgt alles, duldet alles, tröstet selbstlos und still. Sie ist ohne Angst, Leere, Zwang und Scham. Sie bereichert, einigt und birgt. Sie schafft Weibliches im Männlichen und Männliches im Weiblichen, leicht, heiter und kindlich wie ein Abendwind über Ägadien. Sie rettet Verlorenes als Gegenwart und schafft Zukunft aus dem Verlust. Nichts ist befreiender für die angespannte Seele, nichts belebender für die verhärtete, nichts stärkender für die kranke. Die Liebe macht die kleine Seele groß. Das Hohe Lied der Liebe
Bekanntlich klingt das Hohe Lied der Liebe seit Jahrtausenden so: Mein Geliebter ist leuchtend rot, auserkoren unter Tausenden. Sein Haupt ist das feinste Gold, seine Locken sind rabenschwarze Dattelrispen, seine Augen sind wie die Augen der Tauben an den Wasserbächen, mit Milch gewaschen und in Fülle stehend, seine Lippen sind Blumen, die von fließender Myrre triefen, sein Leib ist reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt, seine Schenkel sind Alabastersäulen, gegründet auf goldenen Sockeln, sein Gaumen ist lauter Süße. Alles an ihm ist Lust. Er ist ganz lieblich. Wenn er mich doch küsste mit den Küssen seines Mundes! Auch an der Geliebten ist kein Flecken. Ihre Brüste sind wie zwei junge Rehe, die unter Rosen weiden. Doch als er sie küssen will mit den Küssen seiner Rosen, sind sie alle im Garten der Lust versiegelt: Milch und Honig, Granatapfel und Aloe, Narde, Safran, Zimt und Kalmus, all die edlen Früchte des Weihrauchs, die ihm das Herz genommen haben. Die Geliebte ist eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born lebendiger Wasser. Steht auf, ihr Winde, muss er rufen, weht durch den Garten, dass seine Würzen triefen! So begann das Niedere Lied der Liebe, seine Verse zu suchen. Heute können wir sie alle im Schlaf hersingen, weil die Liebenden des salomonischen Liedes der Liebe keine einsamen Pioniere mehr sind. Seit es unser Individuum gibt, jedenfalls in der Phantasie, sollen wir alle wie Daphnis sein oder wie Cloë. Denn auf den Schlachtbänken, die zwischen uns und den antiken Bürgern liegen, wurde ein neuer sittlicher Maßstab errichtet: Liebe als freie Übereinkunft autonomer Personen, als ein allgemeines Menschenrecht beider, des Mannes und der Frau. Diese Idee von der freien, gleichen, individuellen Geschlechtsliebe, die die Bourgeoisie zur allgemeinen erhoben hat, setzt den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus. Dazu aber ist es im Leben nicht gekommen. Irritiert, angebrannt, deplatziert und ungesättigt, wie wir heute sind, trifft uns die Melodie, ob bei Oscar Wilde oder Carlos Fuentes, wie ein Blitz: In jede Ader ergießt sich glühende Lava, alle Nerven sind auf die Folter gespannt, erschütternde Säfte überschwemmen uns mit Silber und Gift. Wir senken unseren Atem in den Flaum des Schambergs, in den jungen Duft der Achselhöhle, wir suchen den scharfen, süßen After, wir brüllen wie ein Tier, wir können uns nicht lösen, wir wollen uns nicht lösen, wir versinken im Fleisch, due in uno, uno in due, die verlorene Hälfte unseres Glücks ist wieder da, unserer Liebe, unseres Verstandes, unseres Lebens, unseres Todes. Der Mann fasst seine schwellenden Brüste an, die Frau führt ihr Glied in die pochende Scheide. Das Niedere Lied der Liebe
Diesseits der Romane, Traktate und Träume müssen wir bescheidener sein: Überall Herr und Knecht, oben und unten, überall Unvernunft, Verstofflichung, Zerstörung. Die Menschen von klein auf erniedrigt, gedümpelt, entwertet, genötigt, isoliert, leer, voller Angst und ohne Würde, wenn sie, wie man so sagt, Glück haben, ein Rädchen in der Maschinerie des Bestehenden. Wer tagein, tagaus als Maschine drei Handgriffe machen, wer Jahr um Jahr als Maske nutzlose Waren an den Käufer bringen, wer ein Leben lang als Handlanger tote Akten gegen Menschen führen muss, wer so im allgemeinen Leben zurechtgestanzt wird, der kann nicht einfach im Liebes- und Geschlechtsleben das Gegenteil von Maschine, Maske, Handlanger sein – plötzlich er selbst, unverstellt, lebendig, die Seele ganz gelöst. Und wie ist das möglich: erregte Harmonie, gleichzeitig leidenschaftlich, kopflos, solidarisch und gewissenhaft? Wir sind tantalisiert von der Melodie, können nicht schlafen, können sie nur bruchstückhaft erinnern. Immer schiebt sich die Not des Lebens dazwischen, Schwermut und Drangsal, einsam, verlassen, ungeliebt, ohne Lava in den Adern, immer nur Gift, nichts Tierisches, kein Flaum. Der Mund wurde uns wässrig gemacht, der Kopf verdreht. Seither wünschen wir: dass die Masken fallen und das Leben beginnt. Singen wir nach dem Hohen Lied das Niedere Lied der Liebe. Es klingt vielleicht vertrauter: Unsere Liebe ist eine Orgie gemeinster Quälereien. Sie ist voll raffinierter Erniedrigung, wilder Entmächtigung, bitterer Enttäuschung, boshafter Rache und gehässiger Aggression. Sie ist gierig, klebrig, verschlingend, maßlos, kurzatmig, empfindlich, heuchlerisch, unstillbar. Zu ihr gehören Gefühle der Not, nicht des Wohlbehagens: Hass, Angst, Wut, Schuld, Schwäche, Neid und eifernde Sucht. Auf dem Weg der Liebe befriedigt sich der eine selbst durch den und am anderen. Was dem einen recht ist, sei dem anderen billig. Liebende machen einander gefügig. Nur dabei schlägt ihnen keine Stunde. Unsere Liebe ist egomanisch und asozial, eine nahe Verwandte des Wahnsinns und der Sucht. Wer an Verliebte denkt, weiß, wovon die Rede ist. Nur die Über- und Hochschätzung der Liebe in der Kultur bewahrt sie gewöhnlich davor, als Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung liquidiert zu werden. Das gemeine Lied der Liebe ist gewiss beides: eine Strophe vom Hohen, tausend vom Niederen, alltäglicher Refrain und lebenslange Reprise. Das, was wir Liebe nennen, ist eine Einheit einander entgegengesetzter seelischer Strebungen. Wie gesagt: Leben und Tod, Selbstwerdung und Verschmelzung, Spiel und Ernst, Harmonie und Spannung, Heiterkeit und Tragik, grobsinnlich und zartzärtlich. Warum führt sich unsere Liebe wie ein Rätsel auf? Warum schillert sie so? Warum erscheint sie im Leben als monströser Bastard, entweder Süßstoff für die muffig-moderne Psyche oder einzigartiger Nektar für das locker-postmoderne Netz, entweder jauchzende Realität oder japsend wie halbtote Tanten mit mondweißen Armen? Warum muss jeder, der über Liebe schreibt, wie der Papagei auf der Stange sein? Ich denke, es gibt Gründe dafür. Die historische Geburt der individuellen Geschlechtsliebe
So verrückt es auch klingen mag: Kapitalismus und Liebe gehören zusammen. Jedenfalls ist die individuelle Geschlechtsliebe, von der Philosophen im 19. Jahrhundert sprachen, erst mit der Zangengeburt des bürgerlichen Individuums historisch als Möglichkeit aufgekommen, also mit dem Durchbruch der kapitalistischen Produktionsweise und dem Aufstieg der Bourgeoisie zur herrschenden Klasse. Davor, bei Jägern und Sammlern, bei Bodenbauern und Viehzüchtern, in der patriarchalen Ausbeutergesellschaft, in der Sklavenhaltergesellschaft und im Feudalismus, hat es sie nicht gegeben – als freie Übereinkunft autonomer Individuen, die Gegenliebe beim geliebten Menschen voraussetzt und den sexuellen Umgang nur danach bemisst, als ein Menschenrecht beider, des Mannes und der Frau, Liebesbeziehungen als Gewissensbeziehungen mit einer Intensität und Dauerhaftigkeit, bei allen, immer und ums Ganze, auf die sich die Menschen in Altertum und Mittelalter hätten keinen Reim machen können. Diese Idee der Liebe gibt es wie unsere Art und Weise zu lieben erst seit einigen Jahrhunderten, sagen wir seit einigen Generationen. Die individuelle Geschlechtsliebe ist ein neuer sittlicher Maßstab. Sie gehört zu den historisch jüngsten Errungenschaften der Gattung Mensch, die immerhin seit Millionen Jahren ihre Spur auf der Erde hinterlässt. Ist das nicht einer der Gründe für die Instabilität der Liebe und dafür, dass sie noch nicht zu sich gekommen ist? Wesentlicher scheint mir ein anderer Gedanke zu sein. Das bürgerliche Individuum samt ...