E-Book, Deutsch, 306 Seiten
Vejvar / Streitler-Kastberger Utopie und Dystopie
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-11-120620-2
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Beiträge zur österreichischen und europäischen Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert
E-Book, Deutsch, 306 Seiten
ISBN: 978-3-11-120620-2
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Zielgruppe
Literary scholars, philosophers, historians, students, general re / Literaturwissenschaftler/-innen, Philosophen/-innen, Historiker/-
Autoren/Hrsg.
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Vorwort
„Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang“ schreibt Johann Nestroy (Nestroy 1993, 180) in einem bekannten Couplet des Knieriem in der Komödie Lumpazivagabundus oder Das liederliche Kleeblatt (1833), und Karl Kraus bezeichnet Österreich einmal als „Versuchsstation des Weltuntergangs“ (Kraus 1914, 2). Untergangsszenarien, aber auch ihr Gegenstück, Utopien, bevölkern spätestens seit dem 19. Jahrhundert die österreichische und europäische Literatur. Das 20. Jahrhundert mit Erstem und Zweitem Weltkrieg und Shoa kann geradezu als Inbegriff der Katastrophe, des Dystopischen, begriffen werden. Péter Nádas widmet ihm mit seinen Aufleuchtenden Details (2017) einen Jahrhundertroman. Unsere Gegenwart mit Pandemie und Klimakrise ist von einer medialen Permanenz des Dystopischen gekennzeichnet, das kein utopisches Gegenlager mehr zu kennen scheint. So ist die Gegenwartsliteratur voller panoramatischer Untergangsvisionen, man denke etwa an Elfriede Jelinek oder Kathrin Röggla. Das Utopische, seit Thomas Morus’ Utopia (1516) rekurrentes Motiv der europäischen Literatur, hat sich zurückgezogen, nistet aber im Detail – seien dies Friederike Mayröckers Glück(en)smomente des Schreibens oder die Utopie ‚perfekter‘ Sprachen bei Clemens J. Setz. Utopie wie Dystopie sind Genres der Extreme und scheinen damit besonders geeignet, in ihrem Widerspiel die Faktur unserer Gegenwart zwischen Zukunftsvision und Untergangslust trennscharf hervortreten zu lassen. „Wien hier ist doch ein netter Platz um zu sterben“, schreibt Robert Schindel (1992, 319) in seinem Roman Gebürtig von 1992, und tatsächlich stirbt es sich kaum irgendwo so nett und auch so häufig wie in Wien. Als Kronzeugen dafür können Ödön von Horváth, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek oder auch Gerhard Roth angeführt werden. Roth etwa vermerkt in seiner essayistischen „Reise zu den Toten“ Orkus (2011): „Solange ich denken kann, zog mich das Unglück an – der Tod, der Selbstmord, das Verbrechen, der Hass, der Wahnsinn.“ (Roth 2011, 11) Und Thomas Bernhards Worte: „es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt“ (Bernhard 2015, 23)1 hallen durch die Gebäude des historischen Wiens, durch Säulen und Innenhöfe, sie sind ein memento mori im alltäglichen Getriebe unseres Daseins. Wer diese Worte einmal gelesen und durchdacht hat, kann vom Lächerlichen unseres Strebens nicht mehr absehen. Der Staatspreisträger Bernhard holt in seiner ‚Dankesrede‘ zum Österreichischen Staatspreis, aus der die zitierten Worte stammen, zu einem regelrechten dystopischen Rundumschlag aus: Der Staat ist ein Gebilde, das fortwährend zum Scheitern, das Volk ein solches, das ununterbrochen zur Infamie und zur Geistesschwäche verurteilt ist. Das Leben Hoffnungslosigkeit, an die sich die Philosophien anlehnen, in welcher alles letzten Endes verrückt werden muß. (Bernhard 2015, 23) Und wie wenn das noch nicht genug Diffamierungen und Dystopien wären, schließt Bernhard noch die folgenden Zeilen an: „Wir sind Österreicher, wir sind apathisch; wir sind das Leben als das gemeine Desinteresse am Leben, wir sind in dem Prozeß der Natur der Größenwahn-Sinn als Zukunft.“ (Bernhard 2015, 23) Dies alles in Anwesenheit eines Ministers und eines österreichischen Publikums. Man hat in der Todesfixierung etwas Spezifisches der österreichischen Literatur gesehen (vgl. etwa Kastberger 2003; Pfeiferová 2007; Herberth 2020; Müller 2020), dabei ist sie natürlich eine Universalie. Das Lächerliche unseres Tuns und Strebens verführt, und auch darin hat man immer wieder ein Kennzeichen der (österreichischen) Literatur gesehen, wo nicht zur Verzweiflung, so doch zur Ironie (vgl. etwa Amann und Hackl 2018; Perloff 2020). Nur mit einem Schuss Ironie und Selbstironie ist das Leben angemessen bewältigbar. Im Widerstreit von Utopie und Dystopie, die jeweils nicht ohne einander auszukommen scheinen, ist (Selbst-)Ironie jedenfalls wesentlich, um beide als Experimentierfelder unterschiedlicher Zukunftserwartungen so gangbar wie erträglich zu machen. Die Aufsätze dieses Bandes unternehmen den Versuch, Aspekten des Utopischen und Dystopischen in Texten der österreichischen wie europäischen Literatur vom 18. bis ins 21. Jahrhundert nachzugehen. Sie belegen nicht nur die Gegenwärtigkeit des Dystopischen, sondern auch die Proliferation des Utopischen in Texten der europäischen Literatur aus dem genannten Zeitraum. Der Band versteht sich zugleich als Festschrift für Klaus Kastberger (Jg. 1963), der seit 2015 Professor am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz und Leiter des Literaturhauses Graz ist. Die Auswahl der Autorinnen und Autoren, mit denen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes beschäftigen, sind charakteristisch für die Forschungsinteressen Kastbergers: die österreichische Literatur vor allem des 20. und 21. Jahrhunderts, aber auch die europäische Literatur dieses Zeitraums, etwa die ungarische Literatur, die er durch persönliche Kontakte mit ungarischen Germanist:innen in den 1990er Jahren kennenlernte und an deren Entwicklung er immer Anteil nahm. So finden sich in dem Band Beiträge zu Johann Pezzl, Johann Nepomuk Nestroy, Marie von Ebner-Eschenbach und Peter Rosegger, Arthur Schnitzler, Alfred Kubin und Elias Canetti, Fedor Ivanovic Panferov, Reinhard Federmann, Marlen Haushofer, Oswald Wiener, Friederike Mayröcker, Thomas Bernhard, Gerhard Roth, Péter Nádas, Norbert Gstrein, Peter Handke und Elfriede Jelinek, H.C. Artmann als Leser H.P. Lovecrafts sowie zum Archiv als dystopischem Ort. Auch über die Literatur hinaus geht der Blick, etwa zum Filmemacher Ulrich Seidl und zum bildenden Künstler Erwin Wurm. Einen besonderen Schwerpunkt des Bandes bildet auch die Beschäftigung mit Ödön von Horváth, die Kastberger durch seine Arbeit am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek ab 1996 besonders prägte. Die Frucht der intensiven Beschäftigung mit dem Werk Horváths war eines der renommiertesten neugermanistischen Editionsprojekte der letzten Jahrzehnte: die Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Horváths, die im heurigen Jahr abgeschlossen wird (Horváth 2009?–?2023). Als langjährigem Juror des Bachmann-Preises, erfahrenem Literaturkritiker in Rundfunk und Printmedien sowie als Leiter des Literaturhauses Graz liegt Klaus Kastberger natürlich auch die gegenwärtig erscheinende Literatur am Herzen. Dies spiegelt gleichfalls der vorliegende Band, etwa durch die Beiträge zu Kathrin Röggla, Clemens J. Setz und Ewald Palmetshofer. Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar Graz, im Februar 2023 Literaturverzeichnis
Amann, Klaus, und Wolfgang Hackl (Hg.). Satire – Ironie – Parodie. Aspekte des Komischen in der deutschen Sprache und Literatur. Innsbruck: Innsbruck University Press, 2018. ? Bernhard, Thomas. „Verehrter Herr Minister, verehrte Anwesende, [Dankesrede zum Österreichischen Staatspreis]“. Thomas Bernhard. Werke. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Bd. 22/2. Journalistisches, Reden, Interviews. Hg. von Wolfram Bayer, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2015: 23?–?24. a, b, c Herberth, Arno. „Österreichische Beiträge zur Suizidologie: Adler, Freud, Schnitzler.“ Austrian Studies: Literaturen und Kulturen. Eine Einführung. Hg. von Desiree Hebenstreit et al. Wien: Praesens, 2020: 349?–?356. ? Horváth, Ödön von. Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Hg. von Klaus Kastberger. Berlin: De Gruyter, 2009?–?2023. ? Kastberger, Klaus. „Über einige Todsünden der österreichischen Literatur unter Berücksichtigung von Elfriede Jelinek“. Lynkeus 5 (2003): 76?–?87. ? Kraus, Karl. „Franz Ferdinand und die Talente“. Die Fackel XVI.400?–?403 (Sommer 1914): 1?–?4. ? Müller, Stephan. „felix austria – infelix germania. Tod, Leid und der Beginn der österreichischen Literaturgeschichte im ‚Nibelungenlied‘.“ Austrian Studies: Literaturen und Kulturen. Eine Einführung. Hg. von Desiree Hebenstreit et al. Wien: Praesens, 2020: 31?–?38. ? Nestroy, Johann. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Hein, Johann Hüttner, Walter Obermaier und W. Edgar Yates. Stücke 5. Hg. von Friedrich Walla. Wien: Jugend und Volk, 1993. ? Perloff, Marjorie. Ironie am Abgrund. Die Moderne im Schatten des Habsburgerreichs. Karl Kraus, Joseph Roth, Robert Musil, Elias Canetti, Paul Celan und Ludwig Wittgenstein. Hamburg: Edition Konturen, 2019. ? Pfeiferová, Dana. Angesichts des Todes. Die Todesbilder in der neueren österreichischen Prosa: Bachmann, Bernhard, Winkler, Jelinek, Handke, Ransmayr. Wien: Praesens, 2007. ? ...